Hermann Leber, 'Plastisches Gestalten'

Die Arbeit am Stein erfordert ein hohes Maß an Erfahrung im Gestalterischen, abgesehen von der notwendigen Kraft und Ausdauer. Wenn es um mehr geht, als um das Ausprobieren des Materials, sollte die Steinarbeit nicht am Anfang der Arbeit im Bereich des Plastischen stehen.
Die Bildhauerstudenten der ersten Semester, die man bei einer Rundreise zu den Kunstakademien Deutschlands dabei beobachten kann, wie sie möglichst ohne Modell einen möglichst großen Stein behauen, pervertieren im Genuß des Steinschlagens den richtigen Grundsatz der Unmittelbarkeit des künstlerischen Arbeitens. Im Laufe der Arbeit gewöhnt man sich daran, die aus der Not gefundenen Formen der Willkür als höheres Prinzip der Gestaltung auszugeben, um den Zeit- und Geldverlust und die in Wahrheit erfahrene Frustration zu kaschieren, falls nicht eigene Einsicht oder der rechtzeitige Eingriff eines hilfreichen Lehrers auf den stufenweisen Weg zur Gestaltung zurückführen.
 
Es läßt sich leicht vorstellen, daß die sinnlichen Erfahrungen bei der Arbeit mit Stein, das Erfahren des Widerstandes der spröden Materie, das Erlebnis der eigenen Anstrengungen beim Erringen der Form eine so erhebliche Intensität besitzen, daß es verständlich erscheint, wenn manche Bildhauer alles übrige Material lediglich als unvollkommenen Ersatz gelten lassen.